Wo autischtische Menschen im Alltag vergessen werden

TW: Ableismus, Selbstverletzung

wo Autistische Menschen im Alltag vergessen werden.

Autor*in: Sira Busch

Foto eines dunklen Schreibtisches auf dem eine weiße Tastatur, eine Pflanze und ein Notizblock liegen in der Mitte ist eine Polaroid von Sira, sie*er hat lange blonde gelockte Haare, trägt dunklen Lippenschtift und schaut lächelnd über eine Schulter. Unten Links und oben rechts ist eine Ansammlung von gelben Punkten.

‚Autismus‘ und ‚Allismus‘ beschreiben zwei unterschiedliche neurologische Entwicklungsformen. Allistische Menschen sind dabei nicht-autistische Menschen und stellen die Mehrheit und die Norm dar. Autistische Menschen haben eine andere Art zu denken, wahrzunehmen und zu kommunizieren. Gemessen an der allistischen Norm sind sie schlechter darin, zwischenmenschliche Signale wahrzunehmen und zu interpretieren, Mimik und Gestik zu benutzen und diese von anderen zu lesen. Oft sind sie hyper- oder hyposensibel bezüglich Sinnesreizen und benutzen selbststimmulierendes Verhalten, kurz Stimming, wie: Wippen mit dem Bein, Flattern mit der Hand, Wackeln mit den Fingern etc., um ihre Sinneseindrücke zu regulieren. Sie haben oftmals sehr starke Interessen, deren Verfolgung über ein allistisches Maß hinausgeht. Man nennt diese Interessen dann auch ‚Spezialinteressen‘. Autistische Menschen interessieren sich meist weniger für andere Menschen und Beziehungen und mehr für Dinge oder Fachthemen. Sie haben oftmals eine stärkere Detailwahrnehmung, sind sehr strukturiert, planen mehr und halten sich an bestimmte Routinen, um ihre Tage geordnet und gleich zu gestalten und nicht mit Unerwartetem oder spontanen Entscheidungen konfrontiert zu werden. Sie finden ihre Verbindung zu anderen Menschen oft durch intellektuellen Austausch und weniger durch Bindung auf Gefühlsebene.

Autistische Menschen benutzen oft so genanntes ‚Masking‘, um nicht als autistisch aufzufallen und deswegen diskriminiert zu werden. Masking ist ein extrem energieraubender Prozess und ein Schutz vor Gewalt. Wird von autistischen Menschen zu viel abverlangt, sind sie zu vielen Reizen ausgesetzt oder zu viel sozialer Kommunikation gezwungen, so haben sie Meltdowns oder Shutdowns. Das heißt: Das Nervensystem ist so überlastet, dass der Körper entweder versucht, Druck nach außen abzubauen oder komplett herunterfährt. Das zeigt sich darin, dass die betroffene Person zum Beispiel schreit, Gegenstände wirft, sich selbst verletzt oder sich komplett zurückzieht und nicht mehr ansprechbar ist. Beide Zustände sind Indikatoren dafür, dass die autistische Person nicht genügend akkommodiert wurde, also keine Anpassungen und Hilfestellungen angeboten wurden, und ihre Gesundheit unter den Umständen leidet.
 
Aufgrund der Tatsache, dass viele nicht wissen, was Autismus genau ist und wie er sich zeigt, haben es autistische Menschen im Alltag oft schwer, weil sie entweder masken müssen oder sich immer wieder intensiv erklären müssen und dann vermutlich trotzdem weiter missverstanden werden. Allein das ständige sich-erklären-müssen zwingt sie zu mehr Kommunikation und verursacht so mehr Überlastung.
 
Autistische Menschen meinen Dinge oft genau so, wie sie diese sagen. Sie sind meist sehr sachlich. Dadurch dass autistische Menschen oftmals wenig Mimik und Gestik verwenden und monoton sprechen, werten das viele allistische Menschen als Angriff und fühlen sich vor den Kopf gestoßen. Im Austausch mit autistischen Menschen funktioniert es aber einfach nicht, in der Art von Verhalten auf Gesinnung zu schließen. Überhaupt ist dieser Interpretationsprozess sehr fehleranfällig. Es wäre so wichtig, im Alltag öfter nachzufragen, offener und direkter zu kommunizieren und auch mal auf Metaebene über die Kommunikation zu reflektieren, um festzustellen, ob jemand wirklich feindlich gesinnt ist oder vielleicht einfach nur eine andere Art hat, zu kommunizieren.
 
In der Arbeitswelt wird von uns meistens erwartet, in ein Büro zu fahren und dort von 9 bis 17 Uhr mit anderen Menschen zu interagieren, unter hellen Neonröhren zu sitzen, keine Kontrolle über Temperatur und Luftqualität zu haben und spontan neue Aufgaben zu erledigen. Dass das alles für autistische Menschen so überhaupt nicht funktioniert, wird missachtet. Die Arbeitslosenquote unter autistischen Menschen ist besonders hoch. Schaut man sich nach neuen Stellen um, so findet man meist die Anforderung, gute*r Teamplayer*in zu sein und gern in Gruppen zu arbeiten. Das schließt autistische Menschen direkt aus und ist schlicht diskriminierend.
 
In der Schule haben wir im 45-Minuten-Takt wechselnde Fächer. Das ist für allistische Schüler*innen eventuell gut so, da sie sich durch die schnellen Wechsel nicht so schnell langweilen. Für autistische Kinder kann das aber sehr frustrierend sein. Sie mögen es meist lieber, sich sehr intensiv und detailliert mit Themen auseinanderzusetzen und nicht mehrere Dinge gleichzeitig zu machen. Hier wäre es also eventuell besser, ein Fach einen Tag lang oder sogar eine Woche lang zu haben. Auch Kopfnoten, also Noten für Dinge, wie Mitarbeit und soziales Verhalten, die vor einigen Jahren viel Aufmerksamkeit bekamen, sind diskriminierend gegenüber autistischen Schüler*innen. Wenn es für dich komplett unnatürlich ist, dein Sozialverhalten an die neurotypische Norm anzupassen, wirst du bestraft und meistens von den anderen Schüler*innen gemobbt, wenn der*die Lehrer*in einmal nicht hinguckt.
 
Geht es um bürokratische Termine wie das Beantragen eines Personalausweises, sich nach einem Umzug umzumelden, sich arbeitslos zu melden etc., so stoßen wir meist auf sehr unübersichtliche, komplett überfüllte und nicht strukturierte Homepages, die autistischen Menschen beim bloßen Anblick schon Kopfschmerzen bereiten. Sich da durchzukämpfen, kann sehr fordernd sein. Kommen wir zu einem Termin, so finden wir meist keine Regelliste, wie jetzt alles genau abläuft. Wir müssen mit Menschen am Schalter sprechen, um herauszufinden, wo wir genau hinmüssen, wann wir an der Reihe sind etc. Autistische Menschen profitieren sehr von ganz klaren, eindeutigen Regeln, damit sie planen können und davon, nicht mit Personen vor Ort reden zu müssen. In den Gebäuden selbst ist das Licht meist sehr grell und es sind viele andere Menschen anwesend. Das kann zu Reizüberflutung führen.
 
Auch in Supermärkten ist es sehr hell, überall sind Leute, Musik läuft und Lautsprecherdurchsagen werden gemacht. Viele autistische Menschen können deshalb nicht oder nur unter großer Anstrengung selbst einkaufen gehen.
 
Es wird von Menschen erwartet, Termine außerhalb des eigenen Hauses wahrzunehmen. Gleichzeitig wird nirgendwo darauf geachtet, Reize zu reduzieren. Das schließt autistische Menschen aus. Oft erhalten wir grobe Anweisungen und es wird davon ausgegangen, dass schon jede*r weiß, was damit gemeint ist. Wenn Dinge aber nicht komplett klar, eindeutig und logisch sind, sind autistische Menschen schnell verwirrt.
 
Aufgrund dieser Einschränkungen zählt Autismus als Behinderung – was richtig ist – und wird pathologisiert – was falsch ist. Die Lebenserwartung von autistischen Menschen ist 14 Jahre geringer. Ihnen wird oft vorgeworfen, sich nur „anzustellen“. Wenn ihnen dies nicht vorgeworfen wird, wird ihnen weniger zugetraut und sie werden infantilisiert. Autistische Menschen sind aber meist sehr große Expert*innen in ihrem Gebiet. Spezialinteressen, Detailwahrnehmung und die Begabung, logisch auf Dinge zu blicken, geben ihnen eine einzigartige Perspektive, von der die gesamte Gesellschaft sehr profitieren könnte. Autistische Menschen haben eine so andere Art zu denken und wahrzunehmen, dass sie unfassbar viel mit ihrem Blick beitragen können.
 
Wenn es um Autismus geht, werden oft nur die Einschränkungen in der Allismus-zentrierten Gesellschaft besprochen. Was für positive Eigenschaften aus Autismus entspringen, ist selten Thema. Viele autistische Menschen sehen ihren Autismus als ganz zentralen Teil ihrer Persönlichkeit. In der autistischen Community wird die Suche nach einer Heilung für Autismus abgelehnt und als ableistisch eingestuft. Autismus ist nichts Negatives, was wir loswerden müssen. Was wir loswerden müssen ist, dass unsere Gesellschaft so sehr auf allistische Menschen ausgerichtet ist und nicht bereit ist, zu akkommodieren, also Anpassungen vorzunehmen und Hilfestellungen anzubieten.
 
Es wäre definitiv möglich, autistische Menschen weniger durch die Art, wie unsere Gesellschaft ist, zu behindern. Wir müssten es nur mal angehen. Und ich denke ein erster Schritt ist, mehr Menschen darüber zu informieren, was Autismus ist, was autistischen Menschen schadet und dass die allistische Norm nicht funktioniert.


Bild von Sira in Tropfenform. Sie*er hat blonde Haare die zu zwei langen Zöpfen geflochten sind. Sie*er blickt lächelnd zur Seite.

Sira Busch (sie*er/er/sie/they)

Sira Busch ist ein*e Autor*in aus Münster. Sie*er hat ein Studium der Mathematik mit Master of Science an der WWU abgeschlossen und sich im Nebenfach mit Philosophie und insbesondere feministischer Philosophie auseinandergesetzt. Der Werdegang als Autor*in begann im 18ten Lebensjahr, als sie*er zum ersten Mal bei einem Poetry Slam auf der Bühne stand.

In Siras gerade erschienenem Buch
‚Weltbilder – Wie Normen und Stereotype Gleichberechtigung verhindern’ geht es darum, wie bestimmte Schablonen in unseren Köpfen unserem eigenen Erkenntnisgewinn im Wege stehen, aber auch darum, wie sie anderen schaden.

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