Evilinas Brief

Evilinas Brief

Zeichnung in Vogelperspektive von einem Tisch mit Laptop, Polaroid Kamera, einer Pflanze Papier und Stiften und Kram. In der Mitte ein Polaroid von Evilina, einer weißen Frau blonden kurzen Haaren, Sie schreit auf dem Bild.

Liebe Evilina,


ich weiß ehrlich gesagt nicht so ganz, wo ich anfangen soll. Ich weiß, dass du überzeugt davon bist, einen vernünftigen Umgang mit deiner Behinderung zu haben, dass du tough bist und dich nicht unterbuttern lässt. Und zum aller größten Part stimmt das auch. Du hast nie einen Hehl daraus gemacht, dich behindert zu nennen und dafür bin ich dir, wie auch unseren Eltern, dankbar. Insbesondere unserer Mum, die von unserer Behinderung bis wir das Licht der Welt erblickt haben, gar nichts wusste. Sie war aber nicht schockiert oder hat es jemals als “Schicksalsschlag” angesehen, sondern als das Normalste der Welt. Von der ersten Sekunde, fand sie dich gut, so, wie du bist. Was sie schockierte, war die Tatsache, dass die meisten es nicht als das Normalste der Welt sahen.
 

Du wirst das jetzt vermutlich nicht hören wollen, aber auch du musst noch echt viel dazu lernen. Denn einige Dinge, die du gerade für Selbstbewusstsein hältst, sind lediglich Strategien, um in unserer ableistisch geprägten Gesellschaft besser zurecht zu kommen. Strategien, die aus internalisiertem Ableismus wachsen, die es nicht brauchen dürfte und die dir letztendlich nicht gerecht werden. I know, schwierige Worte, die du leider erst später wirklich verstehen wirst. Es wird auch nicht einfach deinen internalisierten Ableismus zu verlernen und kritisch mit dir selbst zu sein, aber eins kann ich dir verraten: Es lohnt sich.


Denn du musst keine Witze über deine Behinderung machen, um den awkward "elephant in the room" anzusprechen und du musst auch nicht auf das Wort “Handicap” zurückgreifen, nur weil es vermeintlich cooler klingt. Du bist tough, ja, aber stell dir doch mal die Frage warum du glaubst so tough sein zu müssen? Für dich oder doch eher für die anderen?

Du sagst immer, dass du keine Hilfe brauchst. Möchtest alles selbst können, “wie alle anderen mit zwei Händen auch”. Du willst keine Prothese, weil du nicht auf das Teil angewiesen sein möchtest und machst dir das Leben damit manchmal nur unnötig schwerer. Nur, um anderen zu beweisen, dass du das ja “trotzdem” kannst. Wozu!? 

Auch, wenn die Technik bei Handprothesen immer noch weit weg von perfekt ist, muss ich schon sagen, dass die Teile mittlerweile richtig nice sind. Ich hätte jetzt nur allzu gern eine. Rückblickend betrachtet hätte ich mir von dir gewünscht offener dafür zu sein, Hilfe und Hilfsmittel anzunehmen und dir mal was abnehmen zu lassen. Du musst nicht alles selbst können. Ich weiß, dass es extrem frustrierend ist, wenn einem Dinge schwer(er) fallen und dein Körper wird dir die zusätzliche Belastung später auch nicht unbedingt danken - ich spreche da bereits aus Erfahrung… ;)


Die Gesellschaft trichtert uns ein, dass wir “alles schaffen können, wenn wir nur wollen”, und Hilfe zu benötigen, eine Schwäche sei, doch dem ist nicht so. Es ist okay, auch mal nicht tough zu sein. Langsam findet zum Glück ein Wandel statt, was das angeht. Es wird zum Beispiel viel mehr darüber gesprochen, wie es einem mental geht und dir wird bewusst werden, dass die Dinge, die dir widerfahren sind - so klein sie auch wirken mögen - großen Einfluss auf deine Psyche genommen haben. 


Ich würde dir auch gerne sagen, dass du irgendwann mit dir im Reinen bist, was deine Behinderung angeht, aber das kann ich nicht. Ich denke, dass es immer Ups and Downs geben wird. - Neben guten Momenten eben auch Momente, die dich zurückwerfen und in denen du dir wünscht, nicht behindert zu sein. Das “Warum?” ist an der Stelle entscheidend und wird sich mit der Zeit ändern. Denn, du wirst nicht mehr glauben, deine Behinderung mache dein Leben schlechter, sondern du wirst wissen, dass das Problem effektiv die Diskriminierung ist, die dir täglich begegnet. Ob es starrende Blicke sind, die dich dazu bringen, deinen Arm zu verstecken, Behörden und Krankenkassen, die einem Steine in den Weg legen oder irgendwelche Menschen, die dich fragen, ob “das noch Contergan” sei. (uff, hört das eigentlich nie auf?!) Diese Diskriminierung nicht mehr ertragen zu müssen, ist der eigentliche Wunsch.


Ich möchte dir außerdem von einer längeren Phase in deiner Schulzeit erzählen, in der dich jemand rauspicken und wirklich mies behandeln wird. Ich sag dir, die Zeit wird echt beschissen, so buckle up! Aber letztlich wirst du verstehen, dass diese Person das vermutlich nicht machen wird, weil sie dich oder deine Behinderung scheiße findet, sondern weil sie selbst eine sehr schmerzhafte Zeit bzgl. einer behinderten Person hat und sie die Situation auf dich projizieren wird, weil du als das einzige sichtbar behinderte Mädchen auf der Schule und mit dieser Person in einer Klasse bist. Das ist natürlich absolut keine Entschuldigung und macht die Zeit auch nicht erträglicher, aber du wirst besser damit umgehen können, wenn du die Hintergründe kennst. - Und irgendwann werdet ihr euch sogar die Hände reichen. (no pun intended)


Ich weiß auch, dass es Momente gibt, in denen du an dir selbst zweifelst und dir die Frage stellst “Warum eigentlich ich?!”, aber das wird dir, zumindest bis jetzt , niemand beantworten können. Und im Grunde spielt es auch absolut keine Rolle, ob die Ursache nun “Laune der Natur” oder “ominöser medizinischer Fachbegriff” lautet. 

Deine Behinderung bleibt deine Behinderung. Sie ist Teil von dir, von deiner Identität und genau das hast du mit mehr Menschen gemein, als du glaubst.


Eins ist nämlich sicher: Du wirst irgendwann viele behinderte Menschen treffen, wenn auch erstmal nur virtuell (andere Story), die all das nachfühlen können. Weil ihr alle ähnliche Erfahrungen macht, denn sie sind strukturell, sie betreffen alle behinderten Menschen. Ich wünschte, du hättest diese Personen schon viel früher kennengelernt! Gemeinsam mit diesen Menschen wird dir bewusst werden, dass absolut NICHTS an dir oder deiner Behinderung verkehrt ist, dafür aber eine ganze Mengen an unserem scheiß
ableistischen kack System. Und ihr werdet gemeinsam wütend darauf sein und dieses System ändern wollen.


Auf die Frage wie du mit deiner Behinderung klar kommst, antwortest du immer mit: “Ich kenne es schließlich nicht anders”. Und auch, wenn das natürlich stimmt, heißt das nicht, dass wir nicht dafür kämpfen sollten, damit es besser wird. - Für dich und alle anderen behinderten Menschen gleichermaßen. Und ich bin mir sicher, irgendwann kommen wir auch an diesem Ziel an.


Bis dahin alles Liebe,

Evilina


PS: Debbie geht’s wunderbar und hat mittlerweile einen Hunde-Bruder bekommen ;)




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