Alinas Brief

TW: Ableismus, Medical Gaslighting, Suizidgedanken

Alinas Brief

Zeichnung in Vogelperspektive von einem Tisch mit Laptop, Polaroid Kamera, einer Pflanze Papier und Stiften und Kram. In der Mitte ein Polaroid von Alina, einer weißen Frau mit braunen Haaren mit hellen Strähnen, Sie schreit auf dem Bild.

Liebe Alina,


ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll. Es gibt so viel zu sagen und gleichzeitig weiß ich, dass du dir einfach Ruhe wünschst. Du wünschst dir deine Gedanken und die Ratschläge von anderen abstellen zu können… Das funktioniert leider nicht.

 

Du konzentrierst dich gerade darauf, wie dein Leben aussehen könnte, wenn du alles richtig machst. Auf das, was Behandler*innen dir in Aussicht stellen: Ein Leben, als hätte es den Unfall nicht gegeben. Du fühlst dich dabei komisch, hast aber gelernt, fleißig zu sein und dich durchzubeißen. „Im Leben gibt es nichts geschenkt.“, wurde dir immer gesagt. Dieses Gefühl, was du nicht benennen kannst, täuscht dich nicht. Viel mehr täuschen dich die Menschen in deinem Umfeld und das System, in dem wir leben. Das klingt sehr kryptisch. Um dir das erklären zu können, muss ich ausholen…

 

Du hattest einen schlimmen Unfall und es ist erstaunlich, dass es dir so geht, wie es dir geht. Dein erster Impuls war zu sagen: „Es ist alles okay, wir mussten ja nicht mal im Krankenhaus bleiben.“ Es werden ein paar Jahre vergehen, bis du den Unfall und dessen Folgen einschätzen kannst. Außer der Tatsache, dass du verdammtes Glück hattest zu überleben, ist sehr wenig okay. Das Krankenhaus, in das du nach dem Unfall gebracht wurdest, hat sehr große Scheiße gebaut und du bist diejenige, die das für den Rest ihres Lebens ausbaden wird. Das klingt sehr drastisch, aber ich möchte, dass du weißt, dass du all das, was du in Krankenhäusern und mit Ärzt*innen durchmachen wirst, nicht verdient hast. Es ist nicht deine Schuld.

 

Du bist in dem Glauben aufgewachsen, dass du Hilfe bekommst, wenn du dich verletzen solltest. Du hast Vertrauen in das System, das dich an deiner Existenz und an deiner Wahrnehmung zweifeln lassen wird. Das System, was dich dazu bringen wird, nicht mehr leben zu wollen und dir dabei zuckersüß ins Gesicht lächelt und sagt: „Es ist alles deine Schuld, du hast dich einfach nicht genug angestrengt.“ Dabei bist du gar nicht das Problem. Egal, wie viel Mühe du dir bei deinen Therapien geben wirst, es werden immer Menschen kommen, die dir sagen, dass du nicht gut genug bist, dass du dich zu wenig angestrengt hast. Diese Menschen versuchen, um jeden Preis, dich einzuordnen. Sie versuchen dich in eine Schublade zu stecken.

 

Ganz tief in dir weißt du, dass deine Lebensrealität sich verändert hat. Du traust dich oft nur nicht, es auszusprechen, weil du das Gefühl hast zu scheitern. Das erspart dir eine Menge Diskussionen. Menschen sagen dir auch so schon oft genug: „Wenn du nicht dran glaubst, kann das auch nichts werden.“ Ich erinnere mich noch gut an deine Verzweiflung, weil ich sie auch heute bei mir trage. Die Verzweiflung, die Traumata und die Narben bleiben. Ich weiß, dass das für dich schwierig klingen muss, weil dir immer wieder gesagt wird, dass du geheilt werden kannst und musst. Aber du musst nicht repariert werden.

 

Du fragst dich oft, ob du dich nicht besser hättest benehmen können, als du vor Ärzt*innen saßt. Dabei ist dein Impuls zu sagen: „Es gibt mehr, als tot und gesund.“, richtig! Dein Umfeld und Behandler*innen ziehen gar nicht in Betracht, dass du durch diesen schweren Unfall eine Behinderung erworben hast. Für alle ist klar: Du bist nicht-behindert und gesund. Es dauert noch ein bisschen, bis du dich als behindert identifizieren kannst und das ist okay. Du wirst über Umwege auf strukturellen Ableismus stoßen und der Moment, in dem du verstehst, dass du genau so sein darfst, wie du bist, dass du behindert bist, wird dir noch Jahre später Gänsehaut bereiten.

Du hast dein Leben lang versucht, so zu sein, wie Menschen dich haben wollten. Und hattest dennoch das Gefühl, nicht gut genug zu sein. Du dachtest sehr lange, dass du nur genug leisten musst, um erfolgreich sein zu können, dabei hast du nur einem vermeintlichen Idealbild nachgeeifert.

 

In den ersten Monaten auf der Schauspielschule musstet ihr erklären, warum ihr Schauspieler*innen sein möchtet. Du hast gesagt: „Weil ich besser eine andere Person sein kann, als ich selbst.“ Das war erstaunlich reflektiert für dein 18-jähriges Ich. Du wirst deinen Platz finden, an dem du sein kannst. Ich bewundere dich für deine Wut. Als eine Pflegerin zu dir gesagt hat, dass du  vielleicht aufhören solltest zu kämpfen, hast du geantwortet: „Und wer kämpft dann für mich?“. Du weißt, dass du keine andere Option hast und du wirst bald herausfinden, dass es hier nicht um ein individuelles Problem, sondern um strukturelle Diskriminierung geht.

 

Du wirst viele Menschen auf deinem Weg gehen lassen müssen und das wird dich für eine Zeit lang traurig machen. Ich finde den Gedanken, dass manche Menschen nur für begrenzte Zeit Teil deines Lebens sind, sehr tröstlich. Und auch, wenn du dich zwischendurch allein fühlen wirst und dich mit einem Alien vergleichst, bist du nicht allein. Es gibt sehr viele behinderte Menschen, die ähnliche Erfahrungen machen. Du wirst deine Community finden und sie in dein Herz schließen. Du wirst deine Stimme nutzen und du wirst einen Unterschied machen.

Dein Leben ist gut, auch wenn es nicht so ist, wie du es dir vorgestellt hast.



Ich liebe Dich, ich liebe mich.

Alina


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