Ableismus unterm Tannenbaum

Ableismus unterm Tannenbaum

- Wenn Weihnachten alles andere, als “Oh du fröhliche” ist

In der Mitte ist ein Bild von einem Raum mit einem großen, geschmückten und leuchtenden Weihnachtsbaum. Im Vordergrund ist eine Frau mit dunklen Haaren und weißem T-shirt, die abwehrend einen Hand nach vorn streckt. Um das Bild ist ein dunkelroter Rand und oben links ist unser Angry Cripples Logo mit Weihnachtsmütze. Unten Links ist eine Ansammlung weißer Punkte. Das Design ist auf gelbem Hintergrund.

Das Fest, an das wir vermutlich die höchste Erwartungshaltung im ganzen Jahr haben, steht wieder vor der Tür und irgendwie haben wir doch nahezu alle, oder zumindest alle, die Weihnachten feiern, eine Art Idealvorstellung von Weihnachten im Kopf, oder? Eine besinnliche Zeit, in der die Familie zusammen feiert, isst, sich gegenseitig beschenkt und in der man Zeit findet, um Kraft zu tanken und sich vom anstrengenden Jahr zu erholen. In Wahrheit bedeuten die Weihnachtsfeiertage jedoch für viele für uns hauptsächlich Stress, Anspannung und das ständige Gefühl, dieser enormen Erwartungshaltung nicht gerecht werden zu können. Doch für behinderte Menschen gesellt sich zu all diesen Gefühlen oft noch ein weiteres, denn das sogenannte „Fest der Besinnung“ artet nicht selten auch in einem Fest für Ableismus aus. 


An Heiligabend oder an den darauffolgenden Feiertagen treffen wir oft auf Verwandte, die wir den Rest des Jahres wenig oder gar nicht sehen. Das verführt so manche*n dazu, optische Unterschiede im Vergleich zum letzten Mal herausstellen zu wollen, Körper zu bewerten und einordnen zu wollen, wer es nun dem Anschein nach “geschafft” hat und wer nicht. Und das nicht nur im Stillen für sich, sondern gern auch gut hörbar für alle anderen Anwesenden. Und während das unvorteilhafte Kleid der Tante oder die zunehmende Glatze des Großvaters verbal auseinander genommen wird, so geht es bei behinderten Menschen - klar, worum wohl? Um ihre Behinderung. Oder viel mehr um das, was so manche*r Verwandte*f daraus schließt.


Geht es nun um das Absprechen dieser à la: “Du läufst ja schon viel besser! Bald brauchst du das alles nicht mehr.” oder: “Sei froh, dass du keinen Krebs hast.” Oder um das Kommentieren der Partnerschaft nach dem Motto: “Du kannst ja so froh sein, dass du dennoch eine*n Partner*in hast.” Auch das Kommentieren der beruflichen Laufbahn fällt leicht, lässt man außer Acht, dass behinderte Menschen im Bezug auf Bildung, sowie auf dem Arbeitsmarkt struktureller Benachteiligung ausgesetzt sind, sodass man stattdessen ihren geringeren Erfolg auf zu wenig Ehrgeiz oder fehlendes Talent schieben kann. Auch beim Blick auf den Teller von Menschen, die beispielsweise uf eine spezielle Ernährung angewiesen sind, wird schnell die Augenbraue verächtlich hochgezogen. Das habe es ja früher alles nicht gegeben. Und dann wären da natürlich noch die übergriffigen Fragen zu intimen medizinischen Details, die man vor versammelter Mannschaft bei Klößen und Rotkraut beantworten soll. Und so artet anfangs harmloser Smalltalk in einem regelrechten Kreuzverhör aus.


Aber genug mit ableistischen Beispielen. Letztendlich wissen wir wahrscheinlich alle, was gemeint ist. Und dabei geht es gar nicht nur um direkte für jede*n wahrnehmbare Attacken, sondern auch um Mikroagressionen. Also viele kleine für Betroffene sehr verletzende Bemerkungen, die in ihrer Gesamtheit allerdings eine große Wunde verursachen können. Doch auch, wenn viele von uns ein Lied von diesen Situationen singen können, so können wahrscheinlich nahezu genauso viele an einer Hand abzählen, wie oft sie allen Mut zusammen genommen haben, um sich dagegen zu wehren und die Diskriminierung offen anzusprechen. Zu groß die Erwartungshaltung an eine besinnliche Zeit. Wir halten so fest an unserer Vorstellung und unserem Bedürfnis nach Harmonie, dass dies Türen und Tore für Ableismus öffnet. „Ausnahmsweise spreche ich es mal nicht nicht an. Es ist doch Weihnachten und ich will die Stimmung nicht versauen.“, tönt der internalisierte Ableismus in unserem Kopf. 


Und so nehmen wir den Schmerz Jahr für Jahr hin. Dabei sind diejenigen, die uns mit Ableismus begegnen die, die Stimmung versauen und letzten Endes sollte ein Fest, das ursprünglich mit Harmonie und Gemeinschaft verbunden wird, kein Türöffner für toxisches Verhalten und Ableismus sein.


Laut gegen Ableismus - Auch an Weihnachten 

Auch, wenn dies keine universelle Lösung für alle darstellt und wir diesen Anspruch auch nicht stellen, folgen nun ein paar Möglichkeiten, wie man auf ableistische Attacken während Weihnachten, aber auch nahezu allen anderen Familienfeiern reagieren kann. Jedoch ist uns wichtig zu betonen, dass dies keinesfalls den Eindruck erwecken soll, man habe selbst in der Hand, ob einem Ableismus widerfährt oder nicht. Es handelt sich lediglich um den Versuch, ein paar Möglichkeiten aufzuzeigen, die deeskalierend wirken und einem das Gefühl einer gewissen Kontrolle über die Konversation zurückgeben können.


„Darüber möchte ich gerade nicht sprechen.“ / „Das gehört nun wirklich nicht hier her.“

Egal, wie eng das Verwandschaftsverhältnis auch sein mag, so ist man niemandem Rechenschaft über die eigene Behinderung, über gesundheitliche Details oder die aktuelle Lebenssituation schuldig. Wer das nicht akzeptiert, obwohl er*sie darauf hingewiesen wurde, überschreitet Grenzen.



Den Spieß einfach mal umdrehen 

Es ist nicht einfach, Menschen auf ihr diskriminierendes Verhalten aufmerksam zu machen. Noch weniger, wenn man selbst die diskriminierte Person ist und schon gar nicht, wenn dies dann noch an einem Tag passiert, an den alle die Erwartung purer Harmonie stellen. Spricht man es dennoch an, wird schnell der Vorwurf laut, man würde diese gefährden. Warum also nicht einfach mal den Spieß umdrehen und dem Ableismus reproduzierenden Familienmitglied sagen: „Also weißt du? Mit solchen Aussagen/ Fragen machst du die ganze Weihnachtsstimmung kaputt.“ 

Keine*r will der*die Spaßverderber*in sein und an die heilige Weihnachtsstimmung traut sich erst recht niemand ran. So weist ihr entsprechendes Familienmitglied in die Schranken, ohne eine komplette Eskalation der Situation zu riskieren.


Gegenfragen

Manchmal merkt man erst, wie unangenehm und unangebracht eine Frage ist, wenn man sie selbst beantworten soll. Sei es nun eine Frage zum Job, intimen gesundheitlichen Details oder zur Partnerschaft. Es ist also durchaus möglich kurz und nichtssagend auf eine Frage zu antworten, um daraufhin ernsthaft interessiert wirkend zu fragen: „Und wie ist das bei dir so?“.


„Wie meinst du das?“ / „Warum denkst du das?“ / „Was möchtest du mir damit sagen?“

Wir kennen sie alle. - Menschen, die schneller reden, als dass sie denken. Gerade bei eindeutig diskriminierenden Aussagen kann diese einfache Frage dem gerade noch fröhlich Ableismus reproduzierenden Menschen den Wind aus den Segeln nehmen. Bei Antworten, wie “Ja, du weißt doch, wie ich das meine.”, kann erneut nachgehakt werden. Keine Garantie, dass nicht noch mehr Ableismus reproduziert wird an dieser Stelle, aber zumindest wird die Person in eine unangenehme Lage gebracht, die sie mit ein bisschen Glück nicht so schnell vergessen wird.


Abstand 

Zur Erwartungshaltung an Weihnachten gehört auch das Bild einer großen, intakten und glücklichen Familie und es ist immer noch ein Tabuthema, den Kontakt zu Familienmitgliedern zu unterbrechen. Dabei legitimiert ein Verwandtschaftsgrad niemals Diskriminierung und es ist absolut valide, sich aktiv dagegen zu entscheiden, mit betreffenden Personen Weihnachten zu verbringen oder generell den Kontakt aufrechtzuerhalten.


Ein Kreis in grellem blau. Davor ein Foto von Alina, einer weißen Frau Ende 20 mit mittellangen braun/blonden Haaren. Sie trägt ein schwarzes Oberteil und eine silberne Kette. Sie schaut neutral in die Kamera.

Alina

Konfrontation kostet Kraft. Ich versuche mir vor Zusammenkünften immer klar zu machen, dass ich mich jederzeit Situationen entziehen kann, um kurz frische Luft zu schnappen, ein Glas Wasser zu trinken, oder mich auszuruhen. In dieser Zeit versuche ich mich abzulenken, um nicht immer wieder verletzende Situationen in meinem Kopf durchzuspielen. Dabei hilft mir ein Hörbuch, Musik, oder eine Nachricht an eine*n Freund*in.

Ein Kreis in grellem blau. Davor ein Foto von Luisa, einer weißen Frau Mitte 20 mit dunkelroten welligen Haaren, die ihr knapp bis zu den Schultern gehen. Sie trägt einen weißen Rollkragenpullover und ein schwarzes Kunstleder-Kleid mit breiten Trägern darüber.  Sie hält einen Arm angewinkelt und schaut neutral in die Kamera.

Luisa

Ich hoffe jedes Jahr einfach nur ein schönes Fest zu haben und doch kam es in der Vergangenheit oft genug vor, dass ich den ganzen Abend nur angespannt am gedeckten Tisch saß und einfach nur unsichtbar sein wollte. Mittlerweile habe ich für mich entschieden, dass ich keinen Kontakt mehr zu einem Teil meiner Familie haben möchte und auch, wenn diese Entscheidung immer noch schmerzt, so tut sie nicht so weh, wie ihr Ableismus.

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