Ein Jahr nach Potsdam

TW: Ableismus, Mord

Ein Jahr nach Potsdam - Wir sprechen mit einer ehemaligen Bewohnerin des Oberlinhauses

Dunkelgrauer Hintergrund mit einem weißen Rahmen, an dem oben links und unten rechts spitze Ornamente sind. In dem Rahmen steht in einer weißen schlichten Schriftart: Wir gedenken den vier behinderten Menschen, die heute vor einem Jahr von ihrer eigenen Pflegerin ermordet wurden. Darunter in Schreibmaschinenschrift untereinander: Lucille H., 42 J. Andreas K., 56 J. Martina W., 31 J., Christian S., 35 J. Dann wieder in schlichter Schrift: Wenn behinderte Menschen Gewalt erfahren, ist dies kein individuelles Problem, sondern ein strukturelles. Ganz unten, wieder in Schreibmaschinenschrift: #Potsdam #AbleismusTötet

Heute jährt sich der Mord an vier behinderten Menschen in Potsdam. Die Täterin: Eine Pflegerin des Thusnelda-von-Saldern-Hauses, in dem sie lebten. Das Thusnelda-von-Saldern-Haus gehört zum Oberlinhaus, einer diakonischen Einrichtung in Potsdam-Babelsberg. Am Abend des 28. Aprils 2021 attackierte die Pflegerin Ines R. fünf behinderte Bewohner*innen mit einem Messer und tötete vier von ihnen. Nach der Tat sei sie nach Hause gegangen und habe ihrem Mann die Tat gestanden. Erst am Tag des Gedenkgottesdienstes wurden die Namen der getöteten Menschen bekannt: Martina W.,  Lucille H., Christian S. und Andreas K. Ines R. wurde für vierfachen Mord, mehrfach versuchten Mord und die Misshandlung von Schutzbefohlenen verurteilt. Gleichzeitig klagte sie gegen ihre Kündigung und verlangte Schadensersatz und Schmerzensgeld.


Statt Fotos von den verstorbenen standen auf der offiziellen Trauerfeier des Oberlinhauses vier weiß angemalte Rollstühle. Ein Symbol, das die verstorbenen Menschen nicht nur auf ihre Behinderung reduziert, sondern auch impliziert, es sei lediglich ein tragischer Unfall gewesen. Denn die weiß angemalten Rollstühle waren an das “Earthquake Memorial” in Christchurch angelehnt, bei dem 185 leere weiße Stühle aufgestellt wurden, um der 185 Menschen zu gedenken, die bei einem Erdbeben ums Leben gekommen waren. - Einer Naturkatastrophe, auf die man wahrscheinlich kaum Einfluss nehmen konnte, während die ableistischen Morde durchaus hätten verhindert werden können.


Währenddessen titelte die Berichterstattung zu großen Teilen ableistisch und es war schnell eine Debattenverschiebung zu erkennen. Man konzentrierte sich sehr auf die Perspektive der Täterin und auf vermeintliche Rechtfertigungen für die Morde. Man suchte regelrecht nach Gründen, die ihr Verhalten rechtfertigen könnten und ließ dabei außer Acht, dass man damit eine zutiefst ableistische Annahme vermittelte. Nämlich die, dass Gründe existieren, die den Mord an behinderten Menschen rechtfertigen. Eine Annahme, die im Bezug auf nicht-behinderte Menschenleben wohl nicht so schnell getroffen werden würde. Die psychische Erkrankung von Ines R. sei dafür verantwortlich gewesen, hieß es schließlich, was die Stigmatisierung psychisch erkrankter Menschen weiter befeuerte und den ableistischen Mord als “traurigen Einzelfall” darstellte. 


Dass behinderte Menschen jeden Tag einem höheren Risiko ausgesetzt sind, Gewalt zu erfahren und dass es sich hier keineswegs um Einzelfälle handelt, thematisierten die Medien währenddessen kaum. Statt Ableismus endlich zu thematisieren, stand schließlich der Pflegenotstand im Fokus. Manche sprachen sogar von “Erlösung”, was an die NS-”Euthanasie” denken lässt. Währenddessen war die Behinderten-Community außer sich. Wir waren laut, klärten unentwegt über ableistische Strukturen auf und hätten eigentlich Zeit zum Trauern gebraucht. 


Auch in diesem Jahr waren wir wieder laut. - Eine ganze Woche lang. Und obwohl behinderte Menschen mal wieder unermüdlich Inhalte zur Tat posteten und teilten, blieb der Aufschrei außerhalb der Community verhältnismäßig klein. Während der Entstehung dieses Artikels meldete sich plötzlich Emily bei uns. Emily lebte jahrelang selbst im Oberlinhaus und erklärte sich spontan dazu bereit, mit uns über ihre Zeit dort zu sprechen. Es folgen ausführliche Beschreibungen zu Ableismus, Mobbing, Machtmissbrauch, Gewalt und Manipulation. Falls euch diese Dinge triggern, lest diesen Artikel bitte nicht alleine und auch nur, wenn ihr Kapazitäten dafür habt. 



Emily über ihre Zeit im Oberlinhaus

Es handelt sich hierbei um Zitate


“Ich bin 100 km von Potsdam aufgewachsen. Ich bin dort zur Grundschule gegangen. Hier ist es üblich nach der sechsten Klasse in die weiterführende Schule zu gehen. Und da es ja mit der Barrierefreiheit und der Inklusion so eine Sache ist, haben wir dann letztendlich das Oberlinhaus in Potsdam gefunden. Das ist jetzt fast acht Jahre her. 100 km zu fahren, ist hier jetzt keine so große Distanz, aber um es mir zu erleichtern, bin ich dann dort in die sogenannte „Wohnstätte“ gezogen. Wenn man genauer hinguckt, ist es aber eigentlich ein Heim. Ich bin dann dort an die Schule gekommen und dann nahm das Elend sozusagen seinen Lauf. Ich meine, am Anfang war noch alles schön und ich habe mich dort auch ganz wohl gefühlt. Es gibt natürlich nicht nur Negatives, aber das Negative überwiegt deutlich.


An meinem ersten Schultag wurden wir über das Gelände geführt. Es ist ein sehr großes Gelände, wo auch das Thusnelda-von-Saldern-Haus steht. Alles ist umgeben von einer Mauer und wer nicht zum Oberlinhaus gehört, kommt kaum auf das Gelände. Es sind überall Schranken und Tore. Es gibt dort eine eigene Kirche, ein Krankenhaus und sogar einen Schulbus von der Einrichtung. Man konnte auch mit den öffentlichen Verkehrsmitteln fahren, aber das Privileg hatten nur wenige. Du fühlst dich auf diesem Gelände wie gefangen. Wir wurden herumgeführt und es hieß dann: „Hier ist unsere Kirche, hier findet alles statt. Wir sind ja so kirchlich und voller Nächstenliebe!“. 


Es gab drei Wohnhäuser und je nachdem in welchem Haus man gelebt hat, hatte man verschiedene Privilegien. Man konnte dort vom sechsten bis zum achtzehnten Lebensjahr durchgängig wohnen, was auch manche getan haben, weil sie zum Beispiel von Zuhause verstoßen wurden. Ich bin ein Mensch, der hat sehr schlimmes Heimweh. Ich kann schlecht woanders sein, was vielleicht auch daran liegt, dass ich Autistin bin, wie ich erst im Nachhinein herausgefunden habe. Ich bin ab und zu für ein Wochenende nach Hause gekommen. Allerdings wurde mir das nur erlaubt, wenn ich mich gefügt habe. Wenn ich zum Beispiel geweint habe, weil ich Heimweh hatte, hieß es: “Du hast noch zu viel Kontakt nach Hause. Du bleibst dann lieber nochmal hier.” Das wurde dann also quasi als Druckmittel benutzt und wir wurden komplett abgeschottet von unseren Eltern. Ich hab dann gesagt: „Ok, dann reißt du dich hier zusammen, lächelst immer schön und dann kannst du auch irgendwann nach Hause.“ 


Meine Mutter wurde damals psychisch sehr unter Druck gesetzt. Man sagte ihr: “Ihrer Tochter geht es doch hier so gut und sie können das doch Zuhause gar nicht schaffen.” Dabei ist meine Mutter sogar Pflegefachkraft. Es wurde dargestellt, als wäre ich nur eine Last. Wir waren Zuhause nur zu zweit, einen Vater gibt es bei mir nicht mehr und ich habe das Gefühl, dass das ausgenutzt wurde. Zu diesen Gesprächen wurden dann oft noch andere Menschen hinzugezogen, wie beispielsweise meine Klassenlehrerin und dann wurde zum Beispiel behauptet, ich würde meine Mutter manipulieren, weil ich gesagt habe: „Mama, ich fühle mich hier nicht wohl, ich kann nicht mehr!“. 


Ich hatte bereits in meiner vorherigen Schule Mobbing erfahren, aber in der Oberlin-Schule hat das schlimmste Mobbing stattgefunden, das ich je erlebt habe. Obwohl ich vorher noch dachte: „Oh cool, eine Schule, in der es kein Mobbing gibt! Da kannst du du selbst sein.“ Auch mein Umfeld dachte: „In einer Schule für Menschen mit Behinderung gibt’s doch kein Mobbing.“ - Falsch gedacht. Ich wurde dort wegen meiner Behinderung, meiner Hilfsmittel und meinem Gewicht ausgelacht.


Wir reden hier nicht nur von verbalem Mobbing, wir reden auch von körperlicher Verletzung. Ich habe Schläge auf den Kopf bekommen, mir wurde an den Haaren gezogen, ich wurde angespuckt und nach mir wurden Gegenstände geworfen. Viele Lehrer*innen haben das mitbekommen, aber oft hieß es nur: “Naja, der meint das nicht so!”. Sie waren Zeug*innen und als ich meiner Mutter gesagt habe, dass sie es gesehen haben, wurde ich zu Gesprächen gebeten, in denen es hieß: „Nee, ich habe das gar nicht mitbekommen. Erzähl nicht sowas!“. Es war halt krass und du hattest einfach keine Chance. Meine Mutter ist dann auch zum Schuldirektor gegangen und der meinte: “Um Gottes Willen! Mobbing wird bei uns im Keim erstickt.” Wir standen sogar kurz davor, die Polizei einzuschalten. Ich wollte dann oft nicht zur Schule, aber in der Wohnstätte wollte ich eben auch nicht bleiben. Du wolltest halt nirgendwo sein. 


Wenn ich Zuhause war, wollte ich nie wieder dort hin, aber es wurde eben so viel emotionaler Druck aufgebaut und psychische Manipulation betrieben. - Bei mir und meiner Mutter. Ich hatte zwischendrin eine Rücken-OP im Krankenhaus von Oberlin. Bei mir hat die Heilung sehr lange gedauert, weil ich eine Wundheilungsstörung hatte, was nochmal operiert werden musste. Üblicherweise geht man nach so einer OP in eine Rehaklinik, um wieder auf die Beine zu kommen. Da hat sich die Schule aber quergestellt. Ich hätte ja sowieso schon so viel gefehlt und ich müsste ja sonst das Schuljahr wieder neu machen. Ich war noch gar nicht richtig fit, mein Rücken war noch offen und es hieß schon, ich könne ja wieder für ein paar Stunden in den Unterricht gehen. Ich wurde dann von meinem Kinderarzt von außerhalb krankgeschrieben und sie haben seine Arbeit angezweifelt. Es wurde behauptet, wir würden den Arzt für die Krankschreibungen bezahlen. Am Ende wurde so viel Druck ausgeübt, dass ich die Reha nie bekommen habe und aufgrund dessen immer noch Schwierigkeiten habe. Am Ende habe ich das Schuljahr eh wiederholt, das war also vollkommen egal. 


Ich bin immer lieber zu meinem Kinderarzt außerhalb des Oberlinhauses gegangen und das wurde nie gern gesehen, weil niemand von außen involviert sein sollte. Du wurdest einfach nach außen hin abgeschottet. Ich hatte zum Beispiel früher auch immer sehr starke Periodenschmerzen und habe oft gefehlt. Die Schulärztin forderte daraufhin eine Schweigepflichtsentbindung für meine Gynäkologin. Wir haben dem nicht zugestimmt und daraufhin hieß es laut Zitat ich wäre „dumm und dämlich“ und sollte mich „nicht so anstellen“. Dort in der Schule gab es auch eine eigene Psychologin und man hatte kaum eine Chance zu anderen Psycholog:*innen gehen zu können. Ich hatte in der Zeit versucht eine Therapie bei meinem ehemaligen Psychologen zu machen, ohne Erfolg.


Auch unser Social Media wurde von unseren Lehrer*innen und Betreuer*innen kontrolliert. Es wurde geschaut, was wir posten und was wir liken. Da gab es dann natürlich auch wieder einige Gespräche mit meiner Mutter, weil es dann zum Beispiel hieß: „Ihr Kind hat so und so viele Freunde auf Facebook. Kennt sie die denn alle?“.


Im Oberlinhaus gab es auch eine eigene Physiotherapie, Ergotherapie, Logopädie, Krankenpfleger*innen und Ärzt*innen. Ich hatte damals noch andere Gehhilfen, jetzt habe ich einen Rollstuhl. Wenn ich in der Therapie gesagt habe, dass ich Schmerzen habe oder heute weniger Kraft habe, wurde mir nicht geglaubt. Ich solle mich nicht so anstellen und müsse mich nur mehr bewegen. 


Wenn du, wie ich, bei der Körperpflege auf Hilfe angewiesen bist, hattest du schlechte Karten. Es wurde bestimmt, wann du duschen gehen darfst. Ich müsste meine Haare eigentlich fast jeden Tag waschen und musste aber eine Woche lang mit ungewaschenen Haaren zur Schule gehen. Ich hatte sehr viele Schuppen und wurde auch schon deshalb gehänselt. Ich habe wirklich gestunken, weil mir bei der Körperpflege einfach nicht geholfen wurde. Wenn ich meine Menstruation hatte, wurden meine Hygiene-Artikel nicht rechtzeitig gewechselt. Ich konnte sie aufgrund meiner kurzen Arme nicht allein wechseln und dann bin ich einfach mit einer total blutverschmierten Hose rumgerannt.


Ich war damals 12, fast 13 und das ist auch so eine Phase, in der man sich weiterentwickelt und das wurde da halt nicht gern gesehen, wenn man als Individuum - also ich bin halt immer ein bisschen schriller unterwegs und bin halt einfach ich und verstelle mich nicht. Und das war einfach mein „grober Fehler“ nicht mit der Masse mit zu schwimmen, sondern einfach ich selbst zu sein und das war einfach mein Verhängnis sozusagen. Ich habe mich, wie viele 13-jährige, damals an Kleidung, Frisuren und Make Up ausprobiert, zum Beispiel bunte Lippenstifte. Die fand ich schon immer toll. Und das wurde dort eben nicht gern gesehen. Meine Mutter wurde auch darauf angesprochen. Es hieß: „Das geht gar nicht! Sie ist noch so jung und das sehen wir hier nicht gerne.“ Auch, wenn meine Mutter mich da verteidigt hat, musste ich mich daraufhin sehr einschränken. Viele sind mitgeschwommen, aber ich habe halt auch mal was gesagt und Kritik geäußert und das fanden die eben gar nicht gut. Ich war einfach mitten in der Pubertät und dann kam eines Tages der Teamleiter von der Etage, auf der ich gewohnt habe und meinte: „Weißt du, mein Cousin, der hat da so ein paar Pillen und wenn du die nimmst, ist alles wieder in Ordnung. Ich bring dir mal welche mit!“. Ich weiß nicht, was es für Pillen waren. Ob das nun Drogen oder Psychopharmaka waren, die mir nicht verschrieben wurden. 


Was das Essen angeht, wurde uns immer erzählt, es wären für jedes Kind 2€ pro Tag vorgesehen für Essen und Trinken. Es waren also pro Tag 16€ für acht Teenies, die gut essen können, weil sie noch im Wachstum sind. Es wurde für dieses Geld eingekauft und es war oft einfach zu knapp, gerade weil die Mitarbeiter*innen oft noch mitgegessen haben, was nicht extra berechnet wurde. Auf Unverträglichkeiten oder ausgewogene Ernährung wurde wenig geachtet. 


Und dann fing das eben auch an mit der ersten Liebe. Das wurde dann auch nicht gern gesehen, denn behinderte Menschen haben ja asexuell zu sein. In der Pubertät ist es aber ja oft so, dass man seine Sexualität erforscht. Wir wurden immer getrennt. Jungs und Mädchen haben nicht in einem Raum zu sein und wenn doch, nur mit offener Tür. Also kein wirkliches Recht auf Privatsphäre. Jedes junge Mädchen, bei dem man ein gewisses „Risiko“ gesehen hat, hat dann die Pille verschrieben bekommen, ohne darauf zu achten, ob sie diese aufgrund von Vorerkrankungen überhaupt einnehmen sollten. Wenn man das nochmal Revue passieren lässt, ist das einfach krass. Dass dir einfach Medikamente gegeben werden, die du nicht nehmen darfst. Ich hatte auch mal einen allergischen Schock auf ein Asthmaspray. Ich habe mir fast die Lunge aus dem Leib gehustet und meiner Mutter dabei geschrieben. Sie um Hilfe gebeten, sie soll mich abholen. Es wurde daraufhin wieder behauptet, ich hätte sie nur manipuliert. Und am Ende war es dann so. Ich hatte tatsächlich einfach eine Allergie auf das Medikament. Allgemein wurde in der Wohnstätte nicht immer gut darauf geachtet, ob Medikamente richtig verabreicht werden.


Viele meiner ehemaligen Mitschüler*innen verstehen heute meine Kritik nicht, aber die sind eben auch in dieser Blase. Sie sind von der Oberlin-Schule direkt in das dazugehörende Berufsbildungswerk gekommen. Du hast kaum eine Chance woanders hinzukommen. Du kommst aus dieser Blase nicht raus. In meiner Schüler*innenakte steht so viel Mist drin, nur damit ich nirgendwo mehr eine gute Chance bekomme. Ich hatte es nie einfach und dass da so viel manipuliert wird, um jemanden zu schaden - einem Kind zu schaden - das verstehe ich halt nicht. Das kann nicht sein.


Meine Mutter hat dann ihre Partnerin kennengelernt und wir sind schließlich zu ihr gezogen. Ich bin nun seit ungefähr fünf Jahren weg vom Oberlinhaus. Ich war danach noch eine Zeit lang auf einer Regelschule und mache jetzt mein Abitur über eine Fernschule. Ich möchte später Kriminalpsychologie studieren und ich glaube, so eine Manipulation wie im Oberlinhaus habe ich noch nie erlebt.”


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