TW: Ableismus, sexualisierte Gewalt
Luisas Brief

Liebe Luisa,
bereits jetzt kämpfe ich mit den Tränen, obwohl ich noch keinen einzigen Satz auf‘s 
Papier gebracht habe. - Und du weißt, es braucht einiges, bis du weinst. Aber allein 
der Gedanke an die Zeit, in der du dich gerade befindest, lässt Gefühle in mir hoch 
steigen, bei denen es mir die meiste Zeit gelingt, sie tief in mir zu vergraben. Du bist 
gerade 14 Jahre alt und wohnst nun schon seit einigen Monaten in einer Klinik. Du 
weißt ohnehin nicht, wo du sonst hinsollst. Dein Elternhaus ist gerade ein einziger 
Scherbenhaufen, die letzten Jahre in der Schule waren die blanke Hölle und dann 
war da noch diese OP, die eine riesige Kettenreaktion an Therapien und 
Krankenhausaufenthalten ausgelöst hat.  
 
Deinen nagelneuen Rollstuhl in lila metallic lenkst du mit Stolz durch die langen Flure 
des Klinikgebäudes, das an einer Schule für behinderte Menschen grenzt. Dich 
selbst als behindert zu bezeichnen, fällt dir gerade noch schwer, obwohl du es schon 
immer warst. Jeden Tag siehst du sie, wenn du von Therapiesitzungen kommst oder 
zum privaten Schulunterricht für Patient*innen gehst. Du wirst eine Weile brauchen, 
um zu verstehen, woher dieses überwältigende Gefühl kommt, wenn du während der 
Pausen in der Menge von Schüler*innen untergehst und es dich überhaupt nicht 
stört, in den vollen Gängen nur langsam voranzukommen. Das Wort, das du suchst, 
ist Gemeinschaft. Und aus diesem Gefühl heraus wirst du in wenigen Monaten deine 
sieben Sachen aus dem Klinikzimmer packen, das du zusammen mit diversen 
Mitbewohnerinnen von oben bis unten mit Bravo-Postern tapeziert hast, und wirst 
dich nur ein paar Häuser weiter in einem Internat-Zimmer einrichten, das zu besagter 
Schule gehört. 
  
An den Wochenenden wirst du jedoch in deine Heimat zurückkehren, in der du die 
letzten Jahre so viel aushalten musstest. Deinen Rollstuhl wirst du auch dort 
benutzen, glücklich darüber, endlich ein Stück Mobilität zurückbekommen zu haben. - 
Du hättest ihn viel früher bekommen sollen. Deine Freude darüber wird vorerst alle 
Zweifel überwiegen. Du schämst dich nicht sonderlich dafür und ich wünschte so 
sehr, das würde einfach so bleiben. Doch, Menschen, die dir nahe stehen und 
eigentlich nur das Beste für dich wollen sollten und auf deren Urteil du 
fälschlicherweise vertraust, werden das teilweise anders sehen. Sie werden ihre 
Vorurteile auf dir abladen, werden dir gemeine Stimmen in den Kopf pflanzen, die 
dafür sorgen werden, dass du sehr schlecht mit dir selbst umgehen wirst. Und sie 
werden nicht aufhören, bis du den Rollstuhl aus lauter Scham Jahre lang nicht mehr 
benutzen wirst, obwohl du ihn oft gebraucht hättest und du so deine neu gewonnene 
Mobilität schweren Herzens wieder aufgeben wirst. 
  
Das, was dir da passiert, ist 
Ableismus, also die 
strukturelle Diskriminierung von 
behinderten Menschen und ich wünschte so sehr, ich hätte das bereits in deinem 
Alter einzuordnen gewusst. Es hätte dadurch wohl kaum weniger wehgetan und 
vermeidbar wäre es dadurch auch nicht gewesen, aber vielleicht wärst zumindest du 
selbst nicht so zerstörerisch mit dir und deinem Körper umgegangen. – Hättest ihn 
mit Respekt behandelt und auf deine Gefühle vertraut, anstatt dir sagen zu lassen, 
was du zu fühlen hast. Es liegen viele Jahre vor dir, in denen du dir selbst nie genug 
sein wirst. In denen du alles, was du bist und was du kannst, anzweifeln wirst und es 
wird Menschen geben, die genau das für ihre Zwecke ausnutzen und weiter befeuern 
werden. Menschen, die Grenzen überschreiten werden. Seelische, aber auch körperliche. Und während sie die wahren Schuldigen sind, wirst du dir selbst die Schuld dafür geben. Du wirst deine eigenen Gefühle relativieren, um es anderen recht zu machen und um ein Bild aufrechtzuerhalten, von dem du denkst, dass du ihm entsprechen musst. 
  
Ich möchte, dass du weißt, dass du nichts von all dem tun musst. Dass du gut genug 
bist, wie du bist. Und nicht nur das, ich würde soweit gehen und sagen, dass du zu 
gut für diese Menschen bist und dass sie das genau wissen, sodass sie krampfhaft 
versuchen, dich klein zu halten. Ich will, dass du ihnen das nicht erlaubst. Ich will, 
dass du klare Grenzen setzt. Oder wie sagt man so schön: „Those who get upset 
about you setting boundaries, are the ones, who were 
benefitting from you having none.“ 
  
Du darfst Raum einnehmen. Du darfst und du wirst deine Behinderung, die du schon 
seit dem Kindergarten krampfhaft versuchst, zu verbergen, offen zeigen. Du wirst an 
einen Punkt in deinem Leben kommen, an dem du entscheidest, dass sich niemals 
jemand mehr so fühlen müssen soll, wie du dich gerade fühlst. Du bist nämlich nicht 
allein, weißt du? Du wirst auf wundervolle Menschen treffen, die ganz ähnliche 
Erfahrungen gemacht haben, wie du. Du wirst herausfinden, dass das, was sie 
passiert, nicht deine Schuld ist und auch kein individuelles Problem, sondern 
strukturelle Diskriminierung. Und bis dahin, halte dich an die Musik, sie wird dich 
immer verstehen. 
  
Lass dich nicht unterkriegen von denen, die dir erzählen, du seist anders, aber 
empört mit dem Kopf schütteln, wenn du äußerst, dass du auch anders behandelt 
wirst. Wie gern würde ich dir vieles ersparen, würde dich an die Hand nehmen und 
dich in mein Jetzt führen, dass so viel besser ist. Aber weißt du, bis dahin war auch 
nicht alles schlecht und du wirst auch schöne Erfahrungen machen, die ich nicht 
missen möchte. Und wer weiß, wo ich heute wäre, wäre ich nicht durch all diese 
Täler gegangen? Wir werden es nie herausfinden. Eins weiß ich aber ganz sicher: 
Du wirst deinen Weg finden, auch wenn er steinig ist. Du wirst ok sein. Halte nur 
immer daran fest. 
  
-Luisa 
PS: Sei nicht so hart zu dir selbst!
  
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